Im Interview erklären Samuel Stern und Bijan Razavi, Bildungsreferenten bei der Bildungsstätte Anne Frank, wo die Wurzel des Antisemitismus liegt, warum manche Länder den Staats Israel vernichten wollen und was wir alle in der aktuellen Diskussion über den Nahost-Krieg besser machen können .
Wo liegt die Wurzel des Antisemitismus? Womit fing alles an?
Die Wurzel des Antisemitismus liegt im christlichen Antijudaismus. Antisemitismus ist die modernisierte, weitestgehend säkularisierte Form antiker und mittelalterlicher Judenfeindschaft, in der der Hass auf Juden als Diener des Bösen zentral ist. Ihnen wurde der Mord an Christus und ein spezifischer, nach Auslöschung strebender Hass gegen das Christentum vorgeworfen.
Moderner Antisemitismus erfüllt als Weltdeutung den Zweck, die Widersprüche moderner Gesellschaften projektiv von sich abzuspalten und in Gestalt „des Jüdischen“ adressier- und bekämpfbar zu machen.
Damit kann die (schmerzhafte) Erkenntnis vermieden werden, durch Vergesellschaftung in die Verbrechen der Moderne (Ausbeutung, Kriege etc.) verwickelt zu sein.
Stattdessen werden diese auf den expliziten Willen einzelner als „jüdisch“ imaginierter Personen oder Gruppen zurückgeführt, deren Vernichtung der Welt Erlösung von allem Übel bringen soll.
Welche Formen des Antisemitismus gibt es und welche ist in Deutschland am meisten verbreitet?
Es gibt nicht unbedingt eigene abgeschlossene Formen von Antisemitismus.
Als Ideologie und in seiner Funktion ist Antisemitismus in der Regel immer gleich, variabel sind lediglich die Äußerungsformen – also die Begründungen, das Vokabular, mit dem er erzählt wird.
Er passt sich jeweils an seine Umgebung an und wird – vor allem nach seiner Ächtung nach 1945 – mehrheitlich durch Chiffren oder Andeutungen kommuniziert. Dafür wird jeweils auf das vorhandene kulturelle Wissen über Zeichen, Symbole etc. zurückgegriffen.
Antisemitismus kann beispielsweise in Form von Verschwörungserzählungen, personalisierender Kapitalismuskritik oder in israelbezogener Form auftreten. In Deutschland kommt noch Schuldabwehr-Antisemitismus (Holocaust-Leugnung, Israel-NS-Vergleiche) als spezifische Äußerungsform hinzu.
Islamwissenschaftler Michael Kiefer sagt: Antisemitismus gehört in manchen arabischen Ländern zur Staatsräson.
Woher kommt der muslimische Judenhass?
Wir halten es für wichtig, diese Fragen zunächst getrennt zu betrachten. Antisemitismus und Israelfeindschaft sind in vielen arabischen und auch anderen islamischen Ländern verbreitet, haben aber nicht immer einen religiösen Hintergrund.
Es stimmt aber, dass einige Länder offen die Vernichtung Israels anstreben (beispielsweise die Islamische Republik Iran).
Viele andere verwenden die Feindschaft gegen Israel, um Führerschaft über die arabisch-islamische Welt zu beanspruchen. Dahinter steckt sozusagen ein geopolitisches Motiv. In der Vergangenheit waren das beispielsweise Ägypten, Syrien und Irak, in den vergangenen Jahren vor allem Iran und die Türkei. Diese antiisraelische Rhetorik soll einerseits den natürlich vorhandenen Antisemitismus ansprechen, fungiert aber auch als politisches Mobilisierungsmittel, um von innerer Unzufriedenheit oder Auseinandersetzungen in den jeweiligen Gesellschaften abzulenken.
Einen „genuin muslimischen Antisemitismus“ gibt es in der Moderne nicht. Die eingangs skizzierte Kern-Ideologie des Antisemitismus ist immer gleich, wird aber je nach Gesellschaft oder (Sub-)Kultur in unterschiedlichen Formen begründet oder erzählt.
Im Falle muslimischer Gesellschaften wird sich dabei auf eine religiöse Dimension bezogen, beispielsweise auf Elemente islamischer Überlieferungen, die Jüdinnen*Juden grundsätzlich als Feinde des Islams zeichnen und diese dann auf die Gegenwart übertragen (z.B. durch die Behauptung, Israel wolle die al-Aqsa-Moschee zerstören).
Der moderne Antisemitismus gelangte in die Region jedoch als Import aus Europa – zunächst vor allem verbreitet durch Christ*innen und europäische Diplomat*innen, später dann auch explizit durch die Nationalsozialist*innen, die für die Verbreitung antisemitischer Ideologie mit Islamist*innen kooperierten.
Gleichzeitig gibt es auch säkular begründeten Antisemitismus oder Israelfeindschaft. Parallel zum Antisemitismus der radikalen Linken in Europa beispielsweise wurde Israel auch von arabisch-nationalistischen Gruppierungen (z.B. PFLP Anm. d. Red. Die Volksfront für die Befreiung Palästinas, kurz PFLP, besteht seit 1967 und führte bis in die 1970er-Jahre u. a. zahlreiche Flugzeugentführungen durch. Bis heute begeht sie Anschläge in Israel. Seit 2002 wird sie von der EU als Terrororganisation gelistet.) als „Brückenkopf des Imperialismus“ bezeichnet und bekämpft, wobei zwischen Israel und Jüdinnen*Juden kein Unterschied gemacht wird (vgl. z.B. Flugzeugentführung Entebbe).
Es ist wichtig, diese Erzählformen zu kennen, zu verstehen und auch die große offene Zustimmung zu ihnen zu kritisieren – sie dürfen aber nicht zu der Annahme führen, Antisemitismus sei ausschließlich ein muslimisches Problem.
Man hat momentan das Gefühl, es gibt zwei Lager – und man müsse sich für eines entscheiden. Was läuft Ihrer Meinung nach in der aktuellen Debatte falsch? Was können wir anders machen?
Wir wissen, dass Gesellschaften und Konflikte viel zu komplex sind, um sie auf zwei gegensätzliche Pole zu reduzieren. Dennoch können wir nachempfinden, dass der Eindruck von sich zwei gegenüberstehenden feindlichen Lagern entstehen kann. Dabei sollte im Vordergrund stehen, dass wir nicht vereindeutigen und stets in der Lage sein sollten sachlich miteinander zu reden, einander zuzuhören und kurz zu reflektieren, ob das Gegenüber nicht doch einen Punkt haben könne.
Ebenso müssen wir uns vor Augen führen, dass in vielen Fällen das Reden/Diskutieren über diesen Konflikt eher einem Selbstgespräch ähnelt, da er als Projektionsfläche dient, um eigene biografische und/oder gesellschaftliche, historische und/oder politische Ereignisse und Kämpfe zu verhandeln. Hilfreich wäre es auch keine Dichotomisierungen einzugehen, Zwischentöne wahrzunehmen und ihnen Platz zu geben.Dehumanisierungen des jeweils Anderen werden nicht helfen, sondern zeugen nur davon, dass die Herzen wohl offensichtlich nicht groß genug sind, um über zivile Opfer, egal welcher Herkunft, zu trauern. Dabei sollte man sich fragen, warum das so ist.
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